Nur Gerüchte sind schneller als Licht Печать
21.10.2011 06:27

Diese Phrase ihres Universitätsprofessors für Physik hat Pauline Gagnon, eine kanadische Mitarbeiterin der Europäischen Organisation für Kernforschung, in ihrem Blog auf der Website von CERN geschrieben. Am 23. September verbreiteten alle globalen Nachrichtenagenturen, Rundfunksender, Qualitäts-  und Boulevardzeitungen gerüchteschnell die Nachricht, dass ein Neutrinostrahl die Lichtgeschwindigkeit überschritten hätte. Da scheint die Welt auf den Kopf gestellt.

Am gleichen Tag, 23. September, fand ein Sonderseminar im CERN (Genf) statt, dessen Ziel war, die sensationellen Ergebnisse des OPERA-Experiment durchzusprechen (die Detektoren für diese Anlage wurden mit der Teilnahme von Dubnaer Physikern hergestellt). Im Saal war es nicht genug Platz für alle, die sich an der Diskussion beteiligen wollten. Das Gespräch wurde live über die ganze Welt gestreamt.

Nach drei Tagen fand ein ähnliches Seminar in Dubna, im Laboratorium für Kernprobleme des VIK, statt. Im Konferenzsaal des Laboratoriums war es wieder nicht genug Platz für alle Ankömmlinge, die diese Sensation aus nächster Nähe ansehen wollten. Einen Solopart… Entschuldigung, einen ausführlichen Bericht über die Ergebnisse des OPERA-Experiments hielt der Leiter des Sektors Laboratorium Jury Gornuschkin.

Was ist eigentlich los?

Der Punkt ist, dass die geltenden physikalischen Gesetze, die das Leben auf unserem Planeten und im ganzen Universum beschreiben, eindeutig lauten: Die Geschwindigkeit sich bewegender Objekte (darunter auch Elementarteilchen) kann die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten.  Man könnte den Sinn der relativistischen Formeln, die das behaupten, kurz so  ausdrücken: Die Lichtgeschwindigkeit kann nicht überschritten werden, weil jede Ursache ihrer Wirkung vorausgeht. Würden sich einige Objekte in der Welt, wo wir leben, schneller als Licht bewegen, unterbrächen sie ihre Kausalzusammenhänge. Mit anderen Worten, gäbe es Objekte mit Überlichtgeschwindigkeit, würden unmögliche Dinge passieren: eine Katze würde johlen und brüllen, weil man ihr auf den Schwanz getreten hat, und erst dann träte man tatsächlich auf ihren Schwanz. Eine solche fantastische Wendung der Ereignisse ist nun für möglich gehalten, seitdem eine Kollaboration von am OPERA-Experiment beteiligten Physikern die durch den gleichnamigen Detektor gesammelten Daten verarbeitet hat.

Was hat denn die Oper damit zu tun?

Zuerst hatte die Oper im Sinne einer musikalischen Darbietung absolut nichts damit zu tun. Bei Physikern ist es einfach üblich, lebendige Wörter als Abkürzungen für die Titel ihrer Experimente zu verwenden. Man hat den Titel OPERA auf diese Weise zusammengesetzt: Aus dem Volltitel des Experiments – den fünf englischen Wörtern Oscillation Project with Emulsion-tRacking Apparatus (Projekt zur Untersuchung von Neutrinooszillation mit einem lichtempfindlichen Apparat) – wurde je ein Großbuchstabe (oder das, was ihm am nächsten stand) herausgenommen, so dass die resultierende Aufeinanderfolge ein sinnvolles Wort wäre. Anscheinend wollte es das Schicksal, dass der Sinn des Wortes „Oper“ die Entwicklung des Opera-Experiments zu einer spektakulären Darbietung vorausbestimmte. Dass diese Vorstellung der musikalischen Natur ist, konnte man am großen Tamtam feststellen, das die Presse um das Experiment machte, als sie der ganzen Welt die Nachricht vermittelte, dass die Lichtgeschwindigkeit vermutlich überschritten worden wäre.

OPERA wurde wie Bolschoi-Theater konzipiert

Im Jahre 2005 fing die Sanierung des Bolschoi-Theaters an, um selbst die kleinsten Details dieses massiven historischen Gebäudes mit Hochtechnologien auszurüsten und die Musikkunst ihre neuen Facetten dadurch offenbaren zu lassen.

Das OPERA-Experiment war so konzipiert, um die Umwandlung einer Art von Neutrinos (Myon-Neutrinchen) in eine andere (Tau-Neutrinchen) möglichst detailliert zu beobachten. Diese Umwandlung sollte unser Wissen über die Welt seine neuen Facetten offenbaren lassen.

Das CERN-Beschleuniger SPS erzeugt einen Myon-Neutrinostrahl in Genf. Durch das Gestein macht sich dieser Strahl (keine Klangwelle zwar, wie in der Oper, aber quasi eine Lichtwelle dafür) auf einem 730 Kilometer lang Weg quer durch Italien und trifft auf einen unterirdischen Detektor um den italienischen Urlaubsort Gran Sasso. Das wäre schon eine wirklich beeindruckende Vorstellung in einer prachtvollen Szenerie!

2003 fing eine internationale Kollaboration von 200 Wissenschaftlern aus 39 Instituten von 12 Ländern an, den OPERA-Detektor aufzubauen. Die sogenannten Szintillationsstreifen für diesen Detektor wurden im Charkiwer Institut für Szintillationsstoffe nach neuester Technologie hergestellt, die gemeinsam mit einer Gruppe von Physikern aus dem Laboratorium  für Kernprobleme des VIK entwickelt worden war.

Was in den Streifen passt

Das Wort „Szintillationsstreifen“, an dem die Zunge stolpert und das Interesse eines der Physik fremden Menschen nachlässt, bedeutet eigentlich nichts Grässliches oder Langweiliges. Es steht im Gegenteil für einen schön flimmernden Streifen („szintillieren“ heißt in gutem Deutsch so viel wie „leuchten“). Wenn ein geladenes Teilchen darauf trifft, funkelt dieser aus speziellem Kunststoff produzierte Streifen sofort mit Licht. So einfach lässt uns der Szintillationsstreifen wissen, dass er gerade ein Elementarteilchen registriert hat.

Das Neutrino hat keine Ladung. Darum sendet es kein Licht aus, wenn es durch einen Szintillationsstreifen durchfliegt. Aber beim Zusammenstoßen eines Neutrinos mit Protonen (Teilchen, die in jedem Atomkern zu finden sind) werden andere Teilchen erzeugt, darunter auch geladene. Der Szintillator reagiert darauf und, sozusagen,  leuchtet das ansonsten gern im Schatten bleibende Neutrino aus. Die Flächen der Szintillatoren wurden im französischen Straßburg aus 7 Meter langen Kunststoffszintillationsstreifen montiert, die in Charkiw hergestellt worden waren (70 Tonnen in 2 Jahren). Ebenda, in Straßburg, nahm eine Gruppe von VIK-Physikern an der Montierung teil. Das internationale Team testierte und kalibrierte den montierten Szintillationsdetektor, woraufhin er nach Gran Sasso transportiert wurde.

Die Bleisandwichs

Neben den elektronischen Detektoren, zu denen die Szintillationsstreifen zählen, sind 155 000 Emulsionsdetektoren im OPERA-Experiment eingesetzt: Es sind quasi „Ziegel“, die aus 9 Millionen mit Fotoemulsion dick beschichteten Bleiplatten bestehen. Diese Kombination von Detektoren lässt den Interaktionsstelle eines Neutrinos mit einem Proton genau bemerken.

Das Blei wurde wegen seiner hohen Dichte ausgewählt. Je dichter ein Stoff, desto mehr Protonen er enthält und, folglich, desto mehr die Wahrscheinlichkeit einer Wechselwirkung zwischen dem Stoff und einem Neutrino (dieses entwischende Teilchen  „knüpft Kontakte“ bekannterweise nicht gerade immer gern).

In der dichten Schicht von Fotoemulsion, wie auf einer Fotoaufnahme, werden Spuren durchfliegender Teilchen erfasst. Darum kann man die Stelle, wo ein Neutrino mit einem Proton zusammengestoßen ist und andere Teilchen „gespritzt“ hat, mit Mikronengenauigkeit erkennen, indem man Platte für Platte unter dem Mikroskop betrachtet.

Im Großen und Ganzen, sieht der OPERA-Detektor nach einem Sandwich aus. Dieses Sandwich besteht  aus bleiernen „Ziegeln“, die sich mit Szintillationsflächen abwechseln. Fängt ein Streifen an zu flimmern, rollt sofort ein Roboter-Manipulator darauf zu und zieht den davor liegenden „Ziegel“ heraus. Dieses Stück der Bleifüllung wird zunächst zu der Entwicklung und dem Scannen jeder Platte transportiert, um die Stelle zu erkennen, worauf das vom CERN  hineingeschossene Neutrino getroffen hat.

Wie wird die Neutrinogeschwindigkeit gemessen?

Die strahlenden Streifen zeigen nur, dass „ein Neutrino hier war“. Um festzustellen, mit welcher Geschwindigkeit es dort angekommen ist, braucht man die Koordinaten des Anfangs- und Endpunkts seiner Strecke.

Der ersten Koordinaten sind bekannt: die Zielscheibe der SPS-Beschleuniger im Tunnel unter Genf. Diese Zielscheibe steht immer unbewegt. Das Streckenende ist bei jedem Teilchen anders, aber es befindet sich immer im OPERA-Detektor, genauer gesagt, im jeweiligen Teil davon, wo die Streifen geleuchtet haben. Danach stellt man die genaue Stelle und Zeit der Ankunft eines Neutrinos fest.

Alles funktioniert richtig… oder?

Die Genauigkeit des OPERA-Experiments ist beispiellos. Der Abstand zwischen dem Anfang und Ende der Strecke wurden von speziellen geodätischen Diensten mit der Genauigkeit von bis zu 20 cm gemessen. Man hat sogar die durch das jüngste Erdbeben in L’Aquila entstandene Gesteinsverschiebung berücksichtigt. Die Zeitmessungen der Entstehung des Neutrinostrahls im CERN und seiner Ankunft in Gran Sasso wurden mithilfe von Satelliten des Navigationssystems-GPS  mit einer Abweichung von 10 Nanosekunden durchgeführt. Und hier ist das unglaubliche Ergebnis, das die Physiker, die ihren Augen nicht mehr glauben konnten, drei Jahre lang überprüft haben: Die nach den Koordinaten und der Bewegungszeit zwischen Genf und Gran Sasso berechnete Geschwindigkeit der Neutrinos überschreite die Lichtgeschwindigkeit um 20 Millionstel (0,002 %). Diese Überschreitung mag einem unbedeutend erscheinen, aber es geht hier nicht um die Zahlen, sondern um das Prinzip. Eben darum hat sich die OPERA-Kollaboration dafür entschieden, am 23. September diese erstaunlichen Ergebnisse der weiten Öffentlichkeit anzukündigen. Ihre Rolle ist für die moderne Wissenschaft so wichtig, dass es gemeinsame Bemühungen  von Wissenschaftlern der ganzen Welt gebraucht werden, um entweder den Fehler im Experiment aufzuklären, oder die Physiktheorie in ein neues unbekanntes Wissensgebiet durchbrechen zu lassen.

Am Seminar im CERN vom 23. September, sowie am Seminar in Dubna vom 27. September, wurde über wahrscheinliche Gründe der sensationellen Diskrepanz gesprochen, die sie mit Abweichungen von Geräte, Messmethoden oder Datenverarbeitung erklären lassen sollten. Eben diese Versionen wurden sowohl Im CERN, als auch in Dubna geäußert. Die Diskussion über die unerwartete Entdeckung wird auch weiterhin in anderen in- und ausländischen Physikzentren geführt werden.  Mittlerweile hat man für stärkere Kontrolle vorgeschlagen, den Myon-Monitor im CERN, wo der Strahl erzeugt wird,  zum Einsatz zu bringen und dadurch die Struktur des Strahles zu verändern. Außerdem werden die Ergebnisse des OPERA-Experiments durch andere unabhängige Experimente überprüft. Eines davon ist MINOS, das den Neutrinostrahl vom amerikanischen Tevatron im Fermi National Accelerator Laboratory empfängt.

NEUTRINO ist ein elektrisch neutrales Teilchen hoher Energie, das extrem schwach mit Materie wechselwirkt. Jede Sekunde fliegen mehr als 60 Millionen von der Sonne ausgesandten Teilchen durch 1 cm2 Fläche auf unserem Planten durch, doch sie wirken sich keineswegs auf den menschlichen Körper aus. Die Neutrinos hoher Energien werden  durch ihre Interaktionen mit Zielscheiben aufgefunden. Die Existenz dieses Teilchens sagte der Schweizer Physiker Wolfgang Pauli voraus, und seinen Namen erhielt es vom italienischen Physiker Enrico Fermi. „Neutrino“ heißt „Neutronchen“ auf Deutsch.

Natalia Teryaeva, Ilya Zhezlov